Wie sind die Kompositionen der CD »Vesica Pisces« entstanden?

Eine Frage, die immer wieder von Hörerseite gestellt wird. Für Interessierte nachfolgend ein kleines »Booklet« zur CD, mit Gedanken der jeweiligen Komponisten: Tobias Hoffmann (git), Ralph Beerkircher (git) bzw. mir, Peter Kahlenborn (dm).

Inhaltsverzeichnis

Einer Komposition können verschiedenste Konzepte zugrunde liegen. Und der Begriff »Komposition«, von lateinisch »componere«, zusammensetzen, kann verschiedenes meinen: von der melodischen Skizze bis zum komplexen, mehrstimmigen Werk – vom Song Text mit Akkord Symbolen bis zur handwerklich solide ausgearbeiteten Orchesterpartitur.

Ganz unterschiedlich sind auch die Kompositionen unserer CD »Vesica Pisces«, ihre Entstehungsgeschichte und die jeweilige Idee dahinter. Das Spektrum reicht von der knappen Improvisationsvorlage bis zum komplexen, mehrstimmigen Arrangement. Was »Vesica Pisces« bedeutet, und wie es zu dem Zungenbrecher als Titel der CD kam, erläutere ich in diesem Beitrag.

Die nachfolgenden Texte sind vom Urheber der jeweiligen Komposition verfasst. Die Reihenfolge entspricht dem Track-Verlauf der CD. Viel Spaß beim Lesen, und danke für das Interesse!

»Vorspiel zum Gesang« (Kahlenborn)

Der Eröffnungs-Track der CD ist ein improvisiertes Schlagzeug Solo, angelehnt an das Thema des nachfolgen Titels »Erster Gesang«. Die Idee, ein Konzertprogramm solistisch zu beginnen, geht auf den legendären Schlagzeuger Tony Williams zurück. Begeistert und völlig »Tonysiert« habe ich Anfang der 90er Jahre verschiedene Tony Williams Konzerte in Folge gehört. Zeitweise bin ich dem damaligen Tony Williams Quintett hinterher gereist wie ein Groupie: durch Holland und Deutschland bis nach Italien. Dabei hatte ich mehrfach Gelegenheit, die Musiker persönlich zu treffen.

Jeden Abend eröffnet Mr. Williams sein Konzert mit einem ausgedehnten Schlagzeug Solo, und zieht Mitmusiker und Publikum auf magische Art und Weise in seine Welt. Auf YouTube existieren noch verschiedene, imposante Mitschnitte aus dieser Zeit. In einem Konzert aus dem Kölner Subway sitze ich gleich neben der Hi-Hat.

Auf diese Art zu Musik einzuladen, finde ich eine wunderbare Idee. Ähnlich einer Rubato vorgetragenen Klavier-Solo Intro verwende ich melodische und rhythmische Fragmente des späteren Themas. Dieses »Vorspiel« ist meinem Kompositionslehrer und frühen Mentor Bob Brookmeyer gewidmet. Er hat mich immer wieder dazu herausgefordert, eine eigene Spielhaltung zu entwickeln: »Show me, who you are!«

»Erster Gesang« (Kahlenborn)

Solange ich denken kann höre ich innerlich Musik. Ich singe ständig vor mich hin – und oft unter der sprichwörtlichen Dusche. »Erster Gesang« basiert auf so einem »Duschgesang«. 

Nicht immer habe ich diese Innere Musik bewusst als »Komponieren« wahrgenommen. Demzufolge, was ich in der Schule lerne bedeutet zu komponieren eine Menge Regeln zu kennen, die man musiktheoretisch korrekt anzuwenden weiß.

Dass jede Musik zuerst intuitiv erfahren und Theoriebücher darüber immer erst später geschrieben werden, darauf musste ich nach der Schulmusik erst wieder gestoßen werden. Ein Meilenstein auf dem Weg vom Musik denken zum intuitiven Spiel war ein 10tägiger Workshop mit dem Paul Motian und seinem Trio in Perugia (I) 1992.

Integrität und Vertrauen in die eigene Intuition zu haben, hat Paul Motian (1931-20011) überzeugend vorgelebt. Die Komposition »Erster Gesang« ist meine bescheidene Hommage an das große Vorbild.

©PeterKahlenborn

Foto by Gerhard Richter

»Pep Song« (Hoffmann)

»Pep Song« entstand im Zuge einer Kompositionsreihe bei der ich mit Zufallsfaktoren, zum Beispiel mit Würfelergebnissen experimentiert habe. Ich erinnere mich leider nicht, welches Zufallsprinzip dem »Pep Song« ursprünglich genau zu Grunde liegt. 

Jedenfalls ist es ein bewusst einfach gehaltenes Jam-Stück mit Folk artiger Akkordfolge, und einer im Gegensatz dazu recht komplexen Melodie geworden, die aus ungewöhnlich großen Intervallsprüngen und gewagter Chromatik besteht. 

Es macht immer wieder unheimlich Spaß, »Pep Song« mit Peter und Ralph zu spielen. Die Komposition lässt uns Spielern viel Raum für Improvisation, wodurch das Stück jedes Mal in eine andere Richtung geht.

©TobiasHoffmann

»Mutational Development« (Kahlenborn / Kaufmann)

Die ersten acht Takte des mit 42 Takten für Jazz Verhältnisse ausgedehnten Themas sind der Komposition »Mutational« meines Freundes und Kollegen Achim Kaufmann entliehen, einem meiner Lieblingspianisten im Jazz.

Vermutlich in der Zeit als wir viel in unterschiedlichen Besetzungen miteinander ausprobiert haben, landet das Fragment aus Achims Melodie auf meinem Rechner. Später entdecke ich es dann in meinem»Ideen« Ordner und arbeite das vorhandene Melodie Fragment aus. Erst beim Anhören von Achims sehr zu empfehlender CD »Gueuledeloup« wird mir bewusst, dass die ersten 8 Takte ein Fragment aus seiner Komposition »Mutational« sind.

Besonders ansprechend finde ich den sehr eigenen, der Melodie inhärenten Rhythmus, der mich an ein von Stop And Go gesprochenen Sätzen, die unerwartet unterbrochen werden, um sich anschließend in andere Richtung fortzusetzen. Beim Ausarbeiten des Themas versuche ich, diese Idee zu kultivieren. Erst später füge ich der fertigen Melodie eine zweite, eigenständige Stimme hinzu.

Ralphs und Tobias’ Idee verschiedener Solisten zwischen einzelnen Teilen des Themas, statt der üblichen »Thema-Solo-Solo-Thema« Folge, kommt von Ralph und Tobias. Ich finde, das passt perfekt zum Charakter des Stückes.

©PeterKahlenborn

»Die Harfe« (Hoffmann)

Für dieses Stück habe ich eine längere Melodie geschrieben, die sich im Sinne einer Tonleiter aus überwiegend Sekunden Schritten zusammensetzt, und durchgehend aus gleichmäßigen Achteln besteht. 

Diese Melodie ist unterteilt in jeweils zwei echoartig aufeinander folgende Töne, die von den Spielern möglichst lange gehalten werden. Durch diese Spielweise entsteht ein schwebender,  Harfe ähnlicher Klang, vergleichbar mit dem Klang eines Klaviers bei durchgedrücktem Fortepedal.

Zwar habe ich das Stück auch schon mit anderen Bands gespielt, jedoch geht es erst in der Besetzung mit Peter und Ralph vollends auf: Mit unseren Gitarren versuchen wir so gleich wie möglich zu klingen, und erzielen damit die Wirkung eines einzigen, großen Instruments. 

Peter ergänzt die »Zwei Gitarren Harfe« mit lang anhaltenden Klängen, bspw. gestrichenen Becken. Gegen Ende der Komposition folgt ein Teil mit sich wiederholenden Akkorden, die wir als Sprungbrett für ausgedehnte, freie Improvisationen nutzen. 

»Blofish« (Hoffmann)

Meine Idee war von Anfang an, das o.g. »Tony Williams Konzept« auf meine Kollegen auszuweiten, und auch meine Mitspieler mit einem frei improvisierten Solospot zu featuren. »Blofish« ist eine freie Solo-Improvisation von Tobias Hoffmann. 

©TobiasHoffmann

»X-Ton Musik« (Kahlenborn) 

Dieses 9-taktige Thema ist beim Experimentieren mit einer von Bob Brookmeyer gelernten Kompositionstechnik entstanden. So funktioniert’s:

Du entscheidest dich zunächst für den grundsätzlichen Charakter deiner Komposition – für eine Atmosphäre, ein Gefühl, einen bestimmten Gestus oder Ähnliches. 

Im 2. Schritt wählst du eine Gruppe von Tönen aus die deinem Empfinden nach zu der Vorgabe passen. Das kann sowohl eine Tonleiter als frei zusammen gestellte Auswahl von Tönen sein. Weitere Herausforderungen können das Benutzen bestimmter Intervalle, rhythmischer Elemente oder Akkordtypen sein. 

Frei nach dem Motto »weniger ist mehr« geht es darum, die eigene Fantasie »anzufüttern«.

Eine Art roter Faden in meinem Musikerleben ist die Beschäftigung mit dem vermeintlichen Gegensatz Harmonie – Disharmonie: Die Wirkung so genannter »schöner« (bspw. Dreiklänge) und »schräger« Klänge (hier: große Intervalle) nebeneinander hat mich schon immer fasziniert. 

Welche interessanten Melodien kann ich so bilden? Lassen sich aus dieser Melodie interessante Akkorde ableiten? Lässt sich darüber improvisieren? Dementsprechend experimentell sind die Soli. Wir sind immer wieder fasziniert davon, was dabei Unerwartetes entsteht. ©PeterKahlenborn

Foto by Gerhard Richter

»Work XIV« (Beerkircher)

»Work XIV« ist Ralphs Solospot, ebenfalls eine freie Improvisation, allerdings, ähnlich wie mein »Vorspiel zum Gesang«, konkret als Einleitung zu einer Komposition gedacht. »Work XIV« leitet über zu Ralphs Komposition »Sandeeps Line«.

»Sandeeps Line« (Beerkircher)

Tatsächlich basiert die Komposition – wie der Name andeutet – auf einer 3 taktigen Phrase des Komponisten Sandeep Bhagwati, einem befreundeten Musiker.

Sie ist ursprünglich Teil einer Komposition die Sandeep für shraeng, ein gemeinsames Duo mit dem Kölner Gitarristen Frank Wingold  geschrieben hat. Die Linie hat mich so inspiriert, dass ich sie weitergesponnen habe. 

Linien kreuzen sich, werden durch Clusterakkorde und krasse Tremoli unterbrochen, um sich anschließend (erneut zu verflechten?) wieder ins Gefecht zu stürzen. In der vorliegenden Version entwickelt sich der komponierte Teil organisch in eine freie Improvisation, und schließlich wieder zurück zur ursprünglichen Komposition.  Eines der spielerischen Konzepte, die ich in unserem Trio so liebe! ©RalphBeerkircher

»Work #6« (Beerkircher)

Diese Komposition befindet sich auf meiner Quartett CD „Morphin“ aus dem Jahr 2002. Für das Trio habe ich sie einer „Frischzellenkur“ unterzogen. Eine Intro ist hinzugefügt und das Thema wurde zweistimmig, sodass sich inklusive Bass ein insgesamt 3 stimmiger, polyphoner Satz ergibt.

„Aber in diesem Trio gibt es doch gar keinen Bassisten!?“ 

»Kleine Helfer« am Boden machen es möglich: elektronische Effektgeräte, bspw. ein Octaver

Erwähnenswert ist der 5. Messiaen Mode, in dem das Thema komponiert ist. Eine nur bedingt transponierbare Skala mit den Tönen d, eb, g, ab, a, c#, die im Anschluss an das Thema Ausgangspunkt der gemeinsamen Improvisation ist, aber natürlich verlassen wird und werden darf, um anschließend wieder in Thema und vorgegebenes Tonmaterial zurückzuführen.

©RalphBeerkircher

Foto by Peter Tümmers

»Zarah« (Kahlenborn)

Schon als kleiner Junge hat mich die Schauspielerin und Sängerin Zarah Leander fasziniert. Lange Zeit ist sie in meinem Leben nur eine Fotografie an der Wand – ausgeschnitten aus einer Illustrierten. 

Ich weiß nichts über die Person oder Künstlerin – aber etwas an der Frau auf dem Foto zieht mich magisch an. Diese Frau hat Kraft. Als ich sie das erste Mal singen höre: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen!“ bin ich sofort überzeugt. Weiter höre ich als kleiner Junge gar nicht wirklich zu. Dieser eine Satz elektrisiert mich. Wenn ich diese Liedzeile höre, überkommt mich bis heute immer wieder diese Gewissheit: »Alles, was ich hoffe, träume, wünsche, wird irgendwann wahr!« Zarah Leander – was für eine Stimme! U. a. ihre Stimme hat mir beigebracht:

»Wenn Du eine Vision hast, dann hast Du auch die Kraft, sie wahrzumachen.«

Das zweistimmige, klassisch gehaltene Thema, das in der Improvisation im Gestus des Themas frei weiter gesponnen wird, ist Ausdruck dieses Gefühls.

©PeterKahlenborn

Foto by Ron Kroon

CD bestellen

»Vesica Pisces« kann man natürlich nach wie vor kaufen. Sowohl als physische CD als auch Download. Beides ist auf »Bandcamp« möglich. Auch, die CD anzuhören.

Musiker Kurzbios

Ralph Beerkircher

Ralph Beerkircher (*1967) gilt unter Kollegen als Spezialist für zeitgenössische, komponierte und improvisierte Musik. Gemeinsam mit seinem Gitarren Kollegen Frank Wingold bildet er das viel beachtete Duo »Shraeng«. Auch als Leader seines Quartett (CD „Morphin“) geht er im Jazz eigene Wege. Ralph Beerkircher ist Lehrbeauftragter des »Institut für Musik« an der Hochschule Osnabrück. (Stand 2020)

Tobias Hoffmann

Tobias Hoffmann (*1982) ist Jazz Echo Preisträger 2015, Mitglied des Kölner Jazz Kollektivs »Klaeng«, und leitet erfolgreich sein eigenes Trio (s.a.»11 Famous Songs Tenderly Messer Up«). Für Aufhorchen sorgt er auch als maßgeblicher Bestandteil der Formation »Expressway Skechtes« (s.a. CD Love Surf Music). Tobias Hoffmann gehört zur Szene junger Musiker Kölns, die erfrischend unkonventionell »alt und neu im Jazz« mit »alt und neu in Rock, Pop und Blues« miteinander verbinden. (Stand 2020)

Peter Kahlenborn

Peter Kahlenborn (*1963) ist auf verschiedenen CDs des Gitarristen Axel Hagen (NL) gemeinsam mit Jazzlegenden wie Lee Konitz und Chuck Israels zu hören. Er unterrichtete Jazz-Schlagzeug an der Johannes Gutenberg Universität Mainz, und lebt heute als Schlagzeug-Coach und Jazzmusiker in Köln. Nach Jahren intensiven Engagements im Bereich Kulturpolitik und Musikvermittlung ist Peter Kahlenborn zunehmend auch als Musiker wieder aktiv. Sein neues Trio mit den Gitarristen Tobias Hoffmann und Ralph Beerkircher findet in der Szene schnell Beachtung. Das belegen u.a. Einladungen zu »Winterjazz« oder dem »Klaeng« Festival. 

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